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Titel
Sozialdemokratie global. Willy Brandt und die Sozialistische Internationale in Lateinamerika


Autor(en)
Rother, Bernd
Reihe
Willy Brandt – Studien und Dokumente
Erschienen
Frankfurt am Main 2022: Campus Verlag
Anzahl Seiten
470 S.
Preis
€ 39,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Seiberlich, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg / Breisgau

In „Sozialdemokratie global“ untersucht Bernd Rother das Engagement der Sozialistischen Internationale (SI) in Lateinamerika und die Beziehungen zwischen sozialdemokratischen Parteien Europas und linken Kräften Lateinamerikas. Detailliert beschreibt er den Aufstieg der SI zu einer interkontinental agierenden und anerkannten Organisation unter Willy Brandts Präsidentschaft (1976–1992), nachdem die SI in den ersten beiden Jahrzehnten nach ihrer Neugründung 1951 europazentriert und ohne größere Bedeutung geblieben war. Die SI gewann nach 1976 zahlreiche Mitglieder außerhalb Europas und wurde durch die Veränderung ihrer Arbeitsweise zu einer neuen Akteurin zwischen Parteipolitik, internationaler Politik und klassischer Diplomatie. Da Rother lateinamerikanische Parteien einbezieht, wird zudem deutlich, wie Politiker:innen des „globalen Südens“ nach Einfluss auf internationale Entscheidungen strebten.

Rother schildert die Neuausrichtung der SI als komplexen Prozess: Zunächst spricht vieles dafür, dass der Einflussgewinn der SI auf ihrer losen Organisation und dem dezentralen Aufbau beruhte. Diese eröffneten engagierten Politiker:innen größere Handlungsspielräume. Die Öffnung für neue Mitglieder und programmatische Erweiterungen führten innerhalb der SI jedoch auch zu Spannungen, die besonders in Entscheidungen über die knappen Finanzen und die Verteilung von Posten zu Tage traten. Schließlich stieß die gleichberechtige Integration auch an ihre Grenzen, da europäische und lateinamerikanische Politiker:innen in unterschiedlichem Maße gewillt waren, sich in Themen einzumischen, von denen sie nicht unmittelbar betroffen waren.

Den Kapiteln zur institutionellen und thematischen Annäherung der europäischen und lateinamerikanischen Parteien, die von einer venezolanischen Initiative ausging, folgen drei Fallbeispiele: Die Kapitel zu Nicaragua und El Salvador stehen im Zentrum der Arbeit. Der sehr knappe Abschnitt zum Falklandkrieg legt dar, wie sich aus unterschiedlichen Deutungen des Krieges – ob es sich um ein nationalistisches Abenteuer eines bedrängten Militärregimes oder um eine Dekolonisierungsbemühung handelte – eine Zerreißprobe für die SI entwickelte. Diese entzündete sich am Verhältnis von „Demokratie, nationaler Souveränität und Antiimperialismus zueinander“ (S. 417) und der Hierarchisierung dieser Ziele. Die gesamte Studie fußt auf sorgfältiger Quellenarbeit in mehreren Sprachen in einer Vielzahl von Archiven und legt differenziert offen, worüber sie Aufschluss geben kann und worüber nicht. Durch Zugänglichkeit und Überlieferungslage ergibt sich eine Unwucht zugunsten der europäischen und insbesondere deutschen Akteure, die Rother jedoch bestmöglich ausgleicht.

Drei Befunde scheinen mir besonders geeignet, um zentrale Erkenntnisse, aber auch Grenzen der Studie zu diskutieren: Erstens deutet der Autor die SI als „ein Netzwerk von Persönlichkeiten“ (S. 437). Entgegen zeitgenössischer Annahmen war sie weder eine homogene, straff geführte noch eine finanzkräftige Organisation. Ohnehin konnte sie nur dann geschlossen handeln, „wenn die nationalen Konstellationen dem nicht entgegenstanden“ (S. 366). Dieses Netzwerk und seine internationale Strahlkraft sowie der erhoffte Schutz vor Verfolgung machten die SI wesentlich attraktiver als Geld- oder Sachspenden. Die SI sei europäischerseits also ein Elitenprojekt außenpolitisch engagierter Politiker gewesen. In den Beziehungen zu Lateinamerika seien keine Frauen unter den wichtigsten Akteuren gewesen. Das mag zutreffen; der lakonisch präsentierte Befund bedürfte allerdings der Erklärung, da Frauen sich in Solidaritätsbewegungen ebenso wie Männer engagierten und einige Politikerinnen in der Nord-Süd-Politik sozialdemokratischer Parteien zur gleichen Zeit eine verhältnismäßig große Rolle spielten. Warum gerade in der SI-Arbeit zu lateinamerikanischen Konflikten keine Frauen aktiv waren, bleibt offen.

Zweitens argumentiert die Studie, dass die SI durch ihr direktes Engagement – etwa Reisediplomatie, Wahlkampfhilfe sowie rhetorische und materielle Unterstützung von Konfliktparteien – in Bürgerkriegen und Transitionsprozessen eine neue Form der internationalen Solidarität bzw. „[e]ine neue Form der internationalen Politik“ (S. 31) entwickelte. Diese Parteiaußenpolitik mit dem „Ziel […] eine[r] Umgestaltung ungerechter und autoritärer Gesellschaften in einem sozialdemokratischen Sinne“ (ebd.) ging deutlich über frühere Solidaritätsbekundungen, Geldspenden oder die Gewährung von Asyl hinaus. Für die Hilfe sei zudem die Rolle der Friedrich-Ebert-Stiftung wegen ihrer Finanzstärke, der Büros weltweit und der Kompetenz sowie Vernetzung von Mitarbeiter:innen kaum zu überschätzen. Ferner wirkte die SI als Gütesiegel. Wer von ihr unterstützt wurde, dessen Renommee stieg innen- und außenpolitisch. Gleichzeitig präsentiert die Studie die SI als demokratisierende Kraft und friedliche Konfliktlöserin, da sie ihre Partnerorganisationen zur Akzeptanz von Wahlniederlagen bewegte oder deren Radikalisierung entgegenzuwirken versuchte. Den Einfluss der SI auf die Konflikte in Lateinamerika beurteilt Rother nuanciert: Trotz gewisser Erfolge als Vermittlerin in Bürgerkriegen oder bei der Verhinderung von Interventionen habe sie weniger Einfluss gehabt als die USA, die wiederum nicht so bedeutend war wie interne Konfliktfaktoren. Misserfolge und Fehleinschätzungen der SI wie bei der Partnerwahl in Grenada benennt Rother klar. Im Fazit wird die These einer „neuen Form der internationalen Politik“ jedoch wieder relativiert: Gestützt auf die Bedeutung ihrer Heimatländer hätten Spitzenpolitiker auf klassisch diplomatische Art im Verborgenen versucht, Einfluss auf Konfliktparteien und die politische Willensbildung in Lateinamerika zu nehmen.

Alledem zugrunde liegt, drittens, die These, dass Sozialdemokrat:innen einen neuen Denkraum in der internationalen Politik öffneten. Der Antikommunismus blieb zwar – je nach nationaler Diskurslage unterschiedlich prominent – ebenso wie die Nähe zu den USA relevant, verlor aber seine überragende Bedeutung. Das Buch zeigt, wie viele Sozialdemokrat:innen und Linke den Antiimperialismus und eine „Logik der sozialen Demokratie“ (S. 407-409) gegenüber Logiken des Kalten Krieges aufwerteten. Das Eintreten für sozioökonomische Gleichheit und gegen autoritäre Herrschaft gewann damit an Bedeutung. Wenn Sozialdemokrat:innen befürchteten, die Haltung der USA könnte ungewollt kommunistischen Gruppen Vorschub leisten und damit der Sicherheit oder dem Ansehen des Westens schaden oder die falschen Kräfte unterstützen, setzten sie sich dezidiert davon ab und präsentierten sich als „anderen ‚Westen‘“ (S. 50). Mit der punktuellen Abgrenzung von den USA und der grundsätzlichen Distanz zur Sowjetunion ging es ihnen darum, „den Ordnungssystemen des amerikanischen Kapitalismus und des sowjetischen Kommunismus die Hegemonie streitig zu machen“ (S. 23). Diese drei Befunde charakterisieren den Aufbau und die Arbeitsweise der SI wesentlich präziser und anschaulicher als die bisherige Forschung.

Die Studie klammert staatliche Außenpolitik aus pragmatischen Gründen weitgehend aus. Berücksichtigt man sie, lassen sich die Befunde ein wenig anders gewichten. Sozialdemokratische Parteien diskutierten etwa die „Logik der sozialen Demokratie“ in der Außen- und Entwicklungspolitik oder die Unterstützung von „Befreiungsbewegungen“ schon vor Brandts SI-Präsidentschaft intensiv und manche Regierungen verwirklichten sie. Damit ließen sich neben der zurecht betonten Neuerung in der Form inhaltliche und personelle Kontinuitäten treffender abbilden. Außerdem ließe sich das Verhältnis zwischen nationalen Diskussionszusammenhängen, welche die Studie stark macht, und länderübergreifenden Sichtweisen schärfer konturieren.

So akribisch Rother Ereignisse aufarbeitet, so offen bleibt zeitweise die Tragweite seiner Befunde, da die Ergebnisse nur selten in größere Deutungszusammenhänge einordnet werden. Die Studie legt zwar plausibel dar, wie unterschiedliche Demokratieverständnisse die Zusammenarbeit in der SI erschwerten. Andernorts wird die Weitung der Ergebnisse hingegen nicht zu Ende gedacht. So bleibt unklar, wieso parteipolitisches Handeln als Formierung einer „globale[n] Zivilgesellschaft“ (S. 441) dem Handeln von NGOs an die Seite und staatlichem Handeln gegenübergestellt wird. Auch der titelgebende Globalisierungsbegriff bleibt unscharf und greift die aktuelle Forschungsdebatte nicht auf.1 Der Autor impliziert einen Metaprozess, der die Politik beeinflusste, fragt aber nicht danach, wie Akteur:innen genau jene Verflechtungsprozesse beförderten und das Sprechen darüber beeinflussten, obwohl seine Befunde das nahelegen.

In einer gewissen Spannung stehen auch unterschiedliche Aussagen zu Motiven und Deutungsrahmen. Es ist nachvollziehbar, dass regionaler Einfluss und „geostrategische Erwägungen“ (S. 427) für Sozialdemokrat:innen wichtiger waren als programmatische Nähe zu neuen Partner:innen. Aus der überzeugenden Argumentation, Sozialdemokrat:innen hätten Konflikte zunehmend aus einer „Logik der sozialen Demokratie“ gedeutet, ergibt sich aber die Frage, ob hier nicht zu sehr die zeitgenössische Lagerbildung in der SI reproduziert und dadurch die Bedeutung einer vermeintlichen inhaltlichen Nähe oder der Identifizierung gemeinsamer Ziele unterschätzt wird. Auch bleibt offen, warum es bereits ab 1979 „nur noch um die Sicherung des Erreichten“ (S. 23) gegangen sein soll, während in der Analyse die Mitte der 1980er-Jahre als Hochphase des Engagements erscheint und vieles dafürspricht, dass auch Reagans Wahlsieg keine grundlegenden Einschnitte verursachte.

Trotz einer gewissen Unschärfe in übergeordneten Deutungen hat Bernd Rother ein gehaltvolles und lesenswertes Buch vorgelegt, durch das sich der Formenwandel der internationalen Politik seit den 1970er-Jahren besser verstehen lässt.

Anmerkung:
1 Siehe etwa den Themenschwerpunkt „Globalisierung“ in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte 68 (2020) Hefte 1-4 oder das global dis:connect-Projekt an der LMU München.